Taureck: Jenseits von Singer und Anti-Speziesismus

Taureck: Jenseits von Singer und Anti-Speziesismus

Speziesismus bezieht sich auf die Annahme, dass das Leben von Tieren grundsätzlich weniger wert sei als das Leben von Menschen. Speziesistische Konzepte schwanken traditionell von der Rechtfertigung der kompletten und schrankenlosen Unterwerfung der Tiere als Eigentum unter den Menschen bis hin zum Tierschutzgedanken, der der speziesistischen Annahme grundsätzlich zustimmt, aber bestimmte Exzesse reduzieren möchte.Veganismus wird oft als Ausdruck und Konsequenz von Anti-Speziesismus betrachtet, wobei aber ebenfalls immer wieder Anknüpfungen an die nach Ansicht des Verfassers tatsächlich speziesistisch-anthropozentristischen Überlegungen von Peter Singer erfolgen. Sowohl Anti-Speziesismusals auch der speziesistische Anthropozentrismus von Peter Singer können jedoch direkt (Singer) oder indirekt (Anti-Speziesismus ) menschenfeindlich und auch tierfeindlich (Singer) werden und stellen damit keine tragfähige Basis für eine theoretische Fundierung des Veganismus dar. Nach Ansicht des Verfassers hat kürzlich aber der Philosoph Bernhard H. F. Taureck in seiner Schrift Manifest des Veganen Humanismus eine theoretische Grundlage für den Veganismus erarbeitet, die die Gefahr der Menschenfeindlichkeit vermeidet und gleichzeitig die Notwendigkeit der veganen Lebensweise überzeugend begründet (siehe vorherigen Artikel auf vegan.eu zu den Überlegungen von Taureck hier und hier).

Singers speziesistischer Anthropozentrismus

Der Eintritt für eine vegane Lebensweise wurde und wird oftmals als Ausdruck von Anti-Speziesismus gesehen. Die vegane Lebensweise sei Konsequenz der Überwindung der speziesistischen Konzeption. Während teilweise hieraus im Sinne eines generalisierten Anti-Speziesismusder Schluss auf eine vollständige ethischen Gleichstellung aller Tierarten und einzelnen Tiere mit dem Menschen gezogen wird, ist einer der bekanntesten Vertreter eines vorgeblichen Anti-Speziszismus der Philosoph Peter Singer, der hier einen anderen Weg geht:

Singer will – dadurch anti-speziesistisch scheinend - die Artschranken überwinden, indem er Rechte von Individuen aus deren geistigen Fähigkeiten und nicht ihrer Art herleitet. So sei Voraussetzung für ein Lebensrecht ein Bewusstsein seiner selbst, was ein Individuum erst zur Person mache. Personen könnten aber Menschen und Tiere sein, wobei aber weder alle Menschen noch alle Tieren Personen seien. Wer Person sei, habe ein Recht auf Leben. Wer keine Person sei, für den könne auch kein Recht auf Leben zur Geltung gebracht werden. Im Ergebnis spekulativer Überlegungen gelangt Peter Singer zu der Ansicht, dass ein Recht auf Leben für Neugeborene, aber auch für Menschen mit bestimmten Behinderungen verneint werden müsse. Umgekehrt spricht er einzelnen Tieren, die ein Bewusstsein ihrer Selbst aufweisen würden, ein Recht auf Leben zu.

Recht auf Leben ist nach Peter Singer nur an Individuen gebunden, nicht an eine Art, weshalb nicht alle Menschen ein Recht auf Leben haben müssen. Obwohl Peter Singer das Projekt „Menschenrechte für Menschenaffen“ unterstützt, folgt aus seinem Ansatz entsprechend jedoch ebenfalls nicht, allen Menschenaffen als Art ein Recht auf Leben zuzusprechen – vielmehr wären nach seinen Überlegungen erneut Affenkinder und auch Affen mit bestimmten geistigen Behinderungen von diesem Recht auszunehmen - nämlich alle, die nicht über ein Bewusstsein ihrer Selbst verfügen.

Bei genauerer Analyse bleibt der Ansatz von Singer bleibt im Grunde speziesistisch, der einzige Unterschied zu dem Ist-Zustand ist, dass nicht mehr alle Menschen ein Recht auf Leben haben sollen, dafür aber Individuen anderer Arten (z.B. Menschenaffen) nunmehr ebenfalls ein Recht auf Leben zugesprochen werden soll. Ein generelles Lebensrecht für Menschen und Tiere wird durch Peter Singer abgelehnt.

Der Ansatz von Peter Singer führt verständlicherweise zu scharfen Reaktionen von Behindertenverbänden und wird teilweise mit dem nationalsozialistischen Euthanasiegedanken gleichgesetzt, wobei hiergegen im Übrigen – trotz entsprechender Verteidigungslinien - nicht notwendigerweise spricht, dass Peter Singer aus einer verfolgten jüdischen Familie stammt.

Durch die enge Assoziation der Person Peter Singer mit dem Tierrechtsgedanken, Anti-Speziesismus und der veganen Bewegung - obwohl Peter Singer selbst kein Veganer ist und aus seinen Überlegungen nicht einmal eine Notwendigkeit zum Vegetarismus folgt – hat sich in der gesellschaftlichen Diskussion eine Assoziation von Einsatz für Tiere und Veganismus mit Menschenfeindlichkeit, Euthanasie und rechtgerichtetem Denken ergeben. Dies beschädigt den Ruf von Tierschutz, Tierrechte- und veganer Szene. Dabei ist Teilen der veganen Bewegung vorzuwerfen, dass sie sich ihrerseits durch ihre mangelnde Erkenntnis der grundsätzlichen Unvereinbarkeit der Überlegungen von Peter Singer mit den von ihnen geforderten Tierrechten und dem Veganismus oft nicht ausreichend von Peter Singer distanzieren.

Die Überlegungen Peter Singers stoßen auf weitere Probleme, die selbst dann, wenn man ihnen theoretisch folgen würde, sie für die Praxis unbrauchbar machen - oder aber, wenn sich hierüber hinweggesetzt wird, sie zu einer großen Gefahr werden lassen:

Das von Peter Singer angenommene Bewusstsein seiner Selbst ist als empirisches Konstrukt gedacht, aber letztlich nicht einmal mit annähernder Präzision messbar. Wenn aber das Lebensrecht von einem nicht präzise messbaren Bewusstsein seiner Selbst abhängig gemacht wird, wird Empirie durch normative Willkür ersetzt. Fehler werden unausweichlich, in deren Folgen Individuen ein solches Bewusstsein fehlerhaft abgesprochen und sie damit ihrer Lebensrechte beraubt würden.

Es handelt sich hier nicht um ein nur theoretisches Problem. So wurden vor drei Jahrzehnten nahezu alle Locked-In-Patienten, die sich bei vollem Bewusstsein nicht bemerkbar machen konnten, als unbewusst und entsprechend ohne Bewusstsein ihrer Selbst klassifiziert. Hätte sich damals der Ansatz von Peter Singer durchgesetzt gehabt, wäre ihnen allen das Lebensrecht abgesprochen und sie während womöglich getötet worden.

Diagnostische Verfahren zur Feststellung bewusster Prozesse verändern und verfeinern sich kontinuierlich, wobei zwischen wissenschaftlichem Forschungsstand und Praxis eine große Kluft herrscht. Alles deutet aber darauf hin, dass womöglich für einen beachtlichen Anteil derjenigen Individuen, die jetzt noch als unbewusst klassifiziert werden, künftig bewusste und auch selbst-bewusste Prozesse identifizierbar sein werden. Ob es jemals ein sicheres Instrument geben wird, um Prozesse eines Bewusstseins seiner Selbst ausschließen zu können, bleibt zweifelhaft. Wer also ein solches Bewusstsein zum Entscheidungskriterien über die Bejahung oder Verneinung von Lebensrechten machen will, nimmt in Kauf, dass er das Lebensrecht selbst Individuen mit einem Bewusstsein ihrer selbst abspricht.

Der Ansatz von Peter Singer betreibt unter der Flagge des Anti-Speziesismus einen modifizierten Speziesismus, bei dem eine größere Anzahl an Arten als bisher potentielle Empfänger von Lebensrechten sind, dafür aber das Lebensrecht eines jeden Individuums jeder Art bedroht ist, wenn bestimmte nicht messbare Voraussetzungen (Bewusstsein seiner selbst) angeblich nicht gegeben sind. Dieser Speziesismus Singers wurde bereits in seinem Buch Befreiung der Tiere sichtbar, wo er u.a. auch darüber diskutierte, welche Tiere man vielleicht doch essen dürfe.

Tatsächlich ist der Ansatz Peter Singers nicht nur selbst speziesistisch, sondern zudem hochgradig anthropozentristisch:

Als Kriterium für das Lebensrecht wird durch Peter Singer eine geistige Fähigkeit genommen (Bewusstsein seiner Selbst), welche im Regelfall beim Menschen vorhanden ist. Das mögliche Lebensrecht eines Tieres ergibt sich demnach allein aus seiner Ähnlichkeit zum typischen Menschen.

Gleichzeitig ist Singers Ansatz eine Verneinung von Diversität, da Lebensrechte nur dem typischen Menschen oder Menschenaffen, nicht aber allen zugesprochen werden.Der Ansatz Singers wird so zur fortwährenden Gefährdung aller Menschen und Tiere.

Der Veganismus kann sich auf Peter Singer nicht berufen, wenn es als vegane Kernforderung akzeptiert wird, dass Tiere Menschen zum Konsum ihres Fleisch nicht töten sollen. Denn nach Peter Singer können sie dies tun, wenn das Tier (angeblich) kein Bewusstsein seiner Selbst hat und die Tötung leidfrei vollzogen werden kann. Zwar mag die Forderung nach Nicht-Zufügung von Leiden die gefährlichen Implikationen der speziesistisch-anthropozentristischen Konzeption Singers abzumildern scheinen. Jedoch setzt Peter Singer dies im Rahmen seiner utilitaristischen Ethik selbst außer Kraft, indem er auch leidbesetzte Tierversuche im Einzelfall rechtfertigt. Zudem ergeben sich bei dem Kriterium „Leid“ erneut Messprobleme. Da Peter Singer selbst sein nicht-messbares Bewusstsein seiner Selbst bereits jetzt bei Fragen über Zusprechung oder Nicht-Zusprechung von Lebensrechten angewendet sehen will, ist absehbar, dass er und die Anhänger seiner Denkrichtung ebenso bereit sein werden, vorschnell eine Leidfreiheit zu erklären. Verankert sich die Theorie erst in den Köpfen, wird die Praxis Wege für ihre Anwendung bahnen.

Generalisierter Anti-Speziesismus

Den Überlegungen Peter Singers entgegengesetzt steht ein tatsächlicher anti-speziesistischer Ansatz, der allen Tieren und Menschen Lebensrechte zuspricht. Dieser Ansatz ist fraglos mit der veganen Idee und Praxis zunächst bei weitem besser vereinbar als der erstaunlicherweise von veganen Kreisen nach wie vor immer wieder aufgegriffene speziesistische Anthropozentrismus des Peter Singers. Dennoch gerät auch dieser Ansatz in der Praxis in schwierige, ja kaum lösbare Abgrenzungsprobleme, die ihn aufgrund sich ergebener Anwendungsfälle sogar – bezüglich seines tatsächlichen Strebens unberechtigt – dem Vorwurf der Menschenfeindlichkeit aussetzen können:

Wenn Tieren gleiche Lebensrechte zugesprochen werden wie Menschen, so müssten Menschen im Gegenzug ebenso verpflichtet sein - mindestens aber müsste es statthaft sein - der Rettung des Lebens von Tieren gleiche Priorität zuzuweisen wie der Rettung des Lebens von Menschen. Wird sich hieran im stringenten Sinne orientiert, müsste die Feuerwehr bei Hausbränden sich ebenso um Fliegen und Insekten wie um Menschen kümmern.

In keiner Weise soll hier der Respekt vor dem Leben von Insekten und dessen Bewahrung lächerlich gemacht werden, aber dürfen, können und wollen wir soweit gehen, die oben dargestellte ethische Folgerung ernsthaft zu vertreten? Wäre dies der Fall, wären künftig Rechtfertigungen statthaft, dass man die Nachbarsfamilie nicht habe retten können, weil das Augenmerk auf den Fruchtfliegen in der Nähe des Küchentisches gelegen habe.

Deutlich wird, dass ein radikal anti-speziesistischer Ansatz letztlich ebenfalls nicht tragfähig ist, auch wenn er im Gegensatz zum Ansatz von Peter Singer eigentlich Lebensrechte ausdehnen und nicht beschneiden möchte.

Taurecks Lösung als Freilassung der Tiere

Der Philosoph Bernhard H. F. Taureck hat kürzlich in seiner Schrift Manifest des veganen Humanismus eine Lösung für die schwerwiegenden Probleme erarbeitet, die sowohl den speziesistisch-anthropozentristischen Ansatz von Singer wie auch den letztlich untragbaren generalisierten Anti-Speziesismus überwindet:

Tiere sind nach Taureck Quellenwesen, die sich aufgrund ihres Verbleibens beim eigenen Ursprung von dem aktiv in die Geschichte eingreifendem Menschen, den Taureck Strömungswesen nennt,unterscheiden. Die ethische Forderung, die an den Menschen nun nach Taureck zu richten ist, ist nicht die Ausdehnung der Liste von Arten oder Individuen, denen Lebensrechte zuzusprechen seien und auch umgekehrt nicht im Sinne Singers das Versagen von Lebensrechte für Menschen, sondern die Freilassung der Quellenwesen durch die Strömungswesen.

Die Tiere sind demnach ihrem eigenen Schicksal zu überlassen, was vor allem bezüglich der heutigen menschlichen Praktiken ihre konsequente Entnutzung erfordert. Fleischkonsum, aber auch Tierversuche, Zoos, Zirkusse und letztlich auch die Haustierhaltung sind damit obsolet. Taureck will hierdurch nicht grundsätzlich Hilfeleistungen gegenüber verletzten Tieren ausschließen, aber er verlagert den Schwerpunkt auf den Ausstieg des Menschen aus der Nutzung von Tieren. Gleichzeitig belässt dies dem Menschen weiterhin das Recht, sich im Gefährdungsfall zu verteidigen und bei Unglücken entsprechend vorhandener Möglichkeiten vorrangig seine Mitmenschen - und nicht die Fruchtfliegen - zu retten.

Taurecks Freilassung der Tiere gibt dem Veganismus ein festes theoretisches Fundament, ohne das Lebensrecht von Menschen im geringsten zu gefährden. Dies ist ein enormer Gewinn gegenüber dem speziesistisch-anthropozentristischen Ansatz von Singer, aber auch gegenüber dem generalisierten Anti-Speziesismus. Dabei ist Taurecks Ansatz insofern weiterhin speziesistisch, als er die Kluft zwischen Mensch und Tier betont. Taureck vermeidet aber den extremen Anthropozentrismus Singers, indem er die Perspektive von Strömungs- und Quellenwesen betrachtet und beiden gerecht wird. Ebenso verzichtet Taureck auf pseudo-empirische, weil nicht messbare Konstrukte, wie Bewusstsein seiner Selbst, als Ausgangspunkt der Zuweisung von Lebensrechten. Nichts spräche zudem dagegen, Zwischentypen von Strömungs- und Quellenwesen zu definieren, sollte dies nach Umsetzung einer Freilassung der Quellenwesen erforderlich sein.

Taureck eröffnet mit seiner Analyse den Weg zu einem echten Humanismus, der sich auf den Aufbau einer emanzipatorischen und gerechten menschlichen Gesellschaftsordnung konzentriert, die mit der Freilassung der Tiere einhergeht.

Der Beitrag, den Taureck für die theoretische Fundierung der veganen Idee und Praxis und ihre Absicherung gegenüber direkt oder mittelbar menschenfeindlichen Ideologien leistet, ist kaum zu überschätzen. Es ist zu hoffen, dass es der vegane Community gelingen wird, Versuche ihrer eigenen Legitimation durch ein Festhalten an (den aufgrund ihrer Koppelung von Lebensrechten an pseudo-empirische Konstrukte) menschen- und tierfeindlichen Vorstellungen von Peter Singer, aber auch an einem unrealistischem generalisierten Anti-Speziesismus, der in praktischer Konsequenz menschenfeindlich werden kann, zu überwinden.Zu wünschen ist daher, dass die Überlegungen von Taureck eine noch weitaus breitere Rezeption durch die vegane Community finden werden als sie es gegenwärtig bereits tun.

Verfasser: Guido F. Gebauer

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