Warum der Tierschutz gescheitert ist, aber Veganismus und Kunstfleisch Hoffnung begründen?

Warum der Tierschutz gescheitert ist, aber Veganismus und Kunstfleisch Hoffnung begründen?

Guido F. Gebauer, Diplom-Psychologe und Autor bei vegan.eu begründet, warum seiner Meinung nach der Tierschutz gescheitert ist, Veganismus und Kunstfleisch aus der Petrischale aber für die Tiere Anlass zur Hoffnung geben.

Tierschutz ist für die Bevölkerung ein wichtiges Gut. Umfragen zeigen, dass Verbraucher kein Tierleid möchten. Trotzdem aber isst die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Fleisch und nur 1 % ernähren sich vegan. Das Bekenntnis zum Tierschutz führt also typischerweise nicht zur veganen Lebensweise und zum Ausstieg aus der Tierausbeutung.

Wie können Verbraucher, die Wert auf Tierschutz legen, ihren Konsum von Fleisch, Milch und Eiern fortsetzen, obwohl deren Produktion fraglos mit Tierleid verbunden ist?

Die Beantwortung dieser Frage ist nach meiner Ansicht entscheidend, wenn Tierleid wirklich überwunden und eine vegane Gesellschaft etabliert werden soll. Die Antwort wird aber aus meiner Sichtweise ein Umdenken erfordern:

Weg von traditioneller Tierschutz-Politik, hin zur veganen Lebensweise, aber auch konsequente Vorantreibung der Entwicklung von Kunstfleisch aus der Petrischale.

Wieso essen Menschen, die Tiere schätzen, Fleisch?

Ein Teil der Antwort liegt im Egoismus und dem Unwillen des Menschen, auf etwas zu verzichten. Wir alle kennen es, dass wir Dinge tun, die wir moralisch eigentlich nicht gutheißen, weil wir auf (scheinbare) Vorteile nicht verzichten möchten. Ein zweiter Teil der Antwort liegt in der Angst vor einer veganen Lebensweise. Befürchtet wird ein gesundheitlicher Schaden. Auch dies kennen wir alle als Menschen, dass wir Dinge tun, die wir eigentlich moralisch nicht gutheißen, um einen erwarteten Schaden zu vermeiden. Natürlich führt die vegane Ernährung tatsächlich zu keinen Schäden, aber hier geht es um die Meinungen und Ängste der nicht-veganen Allgemeinbevölkerung. Es ist der Egoismus des Menschen, für den die Tiere geopfert werden.

Nach meiner Ansicht ist Egoismus aber nicht die einzige Erklärung, warum Menschen sich der veganen Lebensweise verschließen. Vielmehr sehe ich einen weiteren Grund in dem Bewusstsein über die Tierschutzgesetze. Seit 30 Jahren höre ich es so oder in ähnlicher Form:

Sicherlich gebe es viel Tierleid, aber bei uns müssten die Tiere wenigstens nicht so leiden wie früher oder anderswo. Vor allem würden bei uns ja die Tiere vor der Schlachtung betäubt. Wenn es zu Grausamkeiten komme, sei dies schlimm, aber es sei nicht der Normalzustand, sondern ein Exzess, eben ein Verstoß gegen die Tierschutzgesetze. Dagegen solle man schärfer vorgehen, dafür und für noch weiter verbesserten Tierschutz sei man auch bereit, mehr zu zahlen.

Die Berufung auf vorhandenen Tierschutz rechtfertigt den eigenen Fleischkonsum.

Könnte es sein, dass der Kampf für gesetzlich und institutionell verankerten Tierschutz Tierleid nicht mindert, sondern Fleischkonsum fördert, indem im Bewusstsein der Fleischesser die Möglichkeit eines verantwortungsvollen Fleischkonsums verankert wird? Könnte allein diese angebliche Möglichkeit sogar bereits dafür genügen, dass Millionen Fleischesser sogar den Konsum von Produkten aus der Massentierhaltung fortsetzen, weil sie ja auch für schärferen Tierschutz seien?

Bilanz der Tierschutzbewegung

Sachlage ist, dass die Entwicklung der Tierschutzgesetze in den westlichen Industriestaaten zeitlich einhergegangen ist mit einer Explosion des Tierleids:

Weltweit werden jährlich Millionen Küken geschreddert. Eine Billion Fische sterben einen grausamen Tod. Die Massentierhaltung nimmt den Tieren jeden Bewegungsraum. Brechen Epidemien aus, werden regelmäßig unzählige Tiere vernichtet. Tiertransporte werden global organisiert, sogar per Schiff über die Weltmeere. Australische Firmen wollen in Kambodscha Schlachthäuser bauen, damit dorthin Rinder verschifft und den Touristen als Steak serviert werden können. In Deutschland wird weniger Schweinefleisch gegessen, aber so viele Schweine geschlachtet wie nie zuvor – für den Export. Füchse leben in Europa nur einen Bruchteil ihrer natürlichen Lebenszeit, weil sie Freiwild für Jäger sind. Entkommen Nutztiere, werden sie oft erschossen – sie seien eine Gefahr für den Verkehr. Hummer werden lebendig gekocht. Ethikkommissionen winken nahezu jeden Tierversuch durch.

Diese Beispiele sind leider nur ein minimaler Ausschnitt aus den Grausamkeiten gegen Tiere, die in unseren Gesellschaften tagtägliche Routine sind.

Streiter für Tierschutz mögen auf die Betäubung beim Schlachten verweisen. Doch dies ist eine Illusion. Zum betäubten Schlachten werden Hühner „geerntet“, also im Akkord in Kisten geworfen, ohne Wasser und Korn zum Schlachthaus transportiert, herausgerissen, panisch schreiend an den Füßen aufgehängt und durch ein Elektrobetäubungsbad geführt, welches keineswegs bei allen zu Bewusstlosigkeit und Schmerzlosigkeit führt. Schweine werden durch Co2 betäubt, auf welches sie mit Erstickungsangst reagieren. Die Elektrobetäubung für Kühe kann wiederum zu einem mit dem Auge nicht identifizierbaren Zustand der Immobilisierung bei voll erhaltenem Bewusstsein und Schmerzempfinden führen.

Der Fleischkonsum in den Industriestaaten übertrumpft derweil alles, was die Menschen in der dritten Welt an Fleisch konsumieren. Die Formel ist einfach und grausam:

Je mehr Fleischkonsum, desto mehr Tierleid.

Weil der Konsum von Fleisch aber nunmehr tatsächlich in den Industriestaaten auf extrem hohem Niveau stagniert, ist die Tierausbeutungsindustrie längst dabei, die Ausbreitung des Fleischkonsums in den Schwellen- und Entwicklungsländern mit allen Mitteln voranzutreiben.

Dies betrifft nicht nur den Fleischkonsum. Riesige Geldsummen werden investiert, um Milch als unabkömmlich darzustellen. Selbst in südostasiatischen Ländern, wo traditionell keine Milch getrunken wurde, hat die Industrie hiermit Erfolg. Vermittelt wird: Gute Eltern geben ihren Kindern Milch. Die Folgen tragen die Kühe. Auch wenn die bäuerliche Landwirtschaft in einigen Regionen noch dominiert, sind Massentierhaltungsanlagen längst dabei, global zu übernehmen.

Fördert Tierschutz Tierleid?

Die Entwicklung über die letzten 150 Jahre ist erschütternd. Das Leid von Tieren in Menschenhand ist heute höher als jemals zuvor. Dem stehen gegenüber die große Anzahl an Tierschutzvereinen in den Industriestaaten, die ebenso große Spendenmengen akquirieren. Mit ihrer Hilfe wurde eine umfangreiche Tierschutzgesetzgebung durchgesetzt. Kontinuierlich arbeitet die Tierschutzbewegung an der weiteren Differenzierung und Verschärfung dieser Gesetze und ihres Vollzuges. Offenbar kann sie auf viele Errungenschaften zurückblicken, aber es gibt ein entscheidendes Manko:

Während es der Tierschutzbewegung gelang, immer weitere Tierschutzgesetze, Bestimmungen, Inspektionen und Einsetzung von Kommissionen durchzusetzen, nahmen vor ihren Augen Massentierhaltung, Fleischkonsum und Tierleid geradezu explosionshaft zu.

Nach meiner Ansicht ist dies ein Warnsignal, welches wir nicht übersehen sollten. Mehr gesetzlicher Tierschutz = weniger Tierleid ist eine Formel, die nicht aufgeht. Bleiben wir beim „mehr von dem Gleichen“, ist zu befürchten, dass wir für die Tiere wenig erreichen. Hüten sollten wir uns auch vor Selbstbeweihräucherung und Arroganz. In den Industriestaaten ist das Tierleid am höchsten. Exportieren wir unser Modell, exportieren wir Tierleid, verschärfte Tierschutzgesetze ändern daran offensichtlich gar nichts.

Es drängt sich mir die Sorge auf, dass es sich bei der in den Industriestaaten zu beobachtenden zeitlichen Verkettung von mehr Tierschutz mit mehr Tierleid nicht nur um ein „trotz Tierschutz Tierleid“, sondern mindestens teilweise auch um ein „wegen Tierschutz Tierleid“ handelt. Dies mag zunächst abwegig erscheinen, aber die nicht lediglich als Lüge abzuqualifizierenden Beteuerungen einer großen Anzahl von Fleischessern, auch für Tierschutz zu sein, weisen in diese Richtung. Das Bewusstsein über die Tierschutzgesetze, Vorschriften und Kontrollen scheint gesellschaftlich zu einem anästhesierenden Effekt zu führen. Dadurch wird die Besorgnis über das Tierleid auf ähnliche Art und Weise gemindert wie Schmerzen durch ein Schmerzmittel. Je stärker die Schmerzen, umso eher mag man sich um Heilung bemühen. Je stärker die Besorgnis über das Tierleid durch Verweis auf den Tierschutz gemindert werden kann, desto weniger braucht man auf den Konsum von Tieren zu verzichten.

Tierschutz kann psychologisch der Gewissensberuhigung dienen, ohne das eigene Verhalten ernsthaft hinterfragen oder ändern zu müssen. Wenn es nicht gänzlich gelingen sollte, die eigene Beteiligung an Tierleid durch Fleischkonsum aus dem Bewusstsein zu drängen, mag gegebenenfalls die Spende für Hunde in China oder den örtlichen Tierschutzverein die Stimme des Gewissens weiter lahmlegen.

Dass auch Mitglieder der Tierausbeutungsindustrie sich traditionell an der institutionellen Tierschutzbewegung beteiligt haben und für diese spendeten, wirkt aus dieser Perspektive nicht mehr überraschend. Schließlich scheint der vorhandene Tierschutz für so manche Fleischesser ein Argument gegen den Wechsel zur veganen Lebensweise zu sein. Allein die angebliche Möglichkeit eines verantwortbaren Fleischkonsums mag dabei psychologisch genügen, um weiter Fleisch zu essen, selbst wenn es aus der Massentierhaltung kommt. Denn man wäre ja bereit, mehr zu bezahlen, wenn noch mehr Tierschutz umgesetzt werden würde.

Ähnlich ist es mit den Verweisen auf "Bio" und "artgerechte Haltung", die ebenfalls sehr oft von denjenigen kommen, die selbst nur selten Bio-Fleisch essen oder gar nicht wissen, woher das Steak auf dem Restaurant-Teller oder der Käse auf der Pizza kommen. Die Existenz von "Bio" an sich scheint beruhigend zu sein, so dass der eigene Fleischkonsum unverändert fortgesetzt werden kann, gegebenfalls ab und zu als Highlight mit einem Stück Bio-Fleisch.

Tierschützer sollten sich ihr Scheitern in Anbetracht der exponentiellen Zunahme des Tierleides eingestehen und nicht weiter auf einem „weiter so“ bestehen. Sie sollten sich der unangenehmen Vorstellung stellen, dass womöglich auch ihr Kampf für Tierschutzgesetze, Vorschriften, Inspektionen und Kommissionen am Ende zu einem gesellschaftlichen Betäubungseffekt beigetragen haben könnte, der es ermöglichte, dass das Tierleid ausgerechnet in den Ländern mit den strengsten Tierschutzgesetzen in einem für die Menschheitsgeschichte einzigartigem Ausmaß explodieren konnte.

Was ist zu tun?

Anders als die traditionelle Tierschutzbewegung setzt der Veganismus auf den konsequenten Ausstieg aus der Nutztierhaltung. Es geht um Entnutzung statt einer Begrenzung von Exzessen, die durch ihren Betäubungseffekt mehr Exzesse schaffen als beseitigen mag. Die vegane Bewegung macht den Menschen deutlich, dass die Haltung, Nutzung und Tötung von Tieren für menschliche Konsumzwecke unverantwortbar und nicht durch Tierschutzgesetze legitimierbar ist. Der Veganismus versucht so den gesellschaftlichen Betäubungseffekt außer Kraft zu setzen, der die Aufrechterhaltung der Tierausbeutung ermöglicht. Damit steht der Veganismus gegen die Strategie des traditionellen Tierschutzes, der diesen Betäubungseffekt letztlich mit erschaffen hat.

Der Veganismus macht so aber auch tatsächlichen Tierschutz möglich. Wenn Tiere gerettet werden, um Einzelne von der Tierausbeutung zu befreien, kann dies dann auch für alle hilfreich sein, wenn gleichzeitig der Unrechtscharakter der Tierausbeutung und die Notwendigkeit ihrer Überwindung deutlich gemacht werden. Der Wert von Tierschutzarbeit liegt in jedem geretteten Tier, erst ihre Anbindung an den Veganismus gibt aber Aussicht auf echte gesellschaftliche Veränderung zum Wohle aller Tiere. Tiere zu retten und selber für Fleischkonsum zu stehen, tauscht demgegenüber nur Individuen, die gerettet und die getötet werden, gegeneinander aus. Zudem verbreitet eine solche vorgebliche Tierschutz-Politik die Illusion von der tiergerechten Fleischwirtschaft und trägt damit zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Fleischkonsums und damit von Tierleid bei. Die Diskussion ist nicht abstrakt, die Politik des deutschen Tierschutzbundes praktiziert genau so eine Tierschutz-Politik, die tatsächlich die Illusion vom tiergerechten Fleischessen am Leben hält.

Der Veganismus muss sich auf einen langen Weg vorbereiten, da die Veränderung tiefgreifend verwurzelter Konsumgewohnheiten nur schwer zu erreichen ist und sich solchen Veränderungen immer Widerstände entgegensetzen. Die vegane Bewegung kann aber das Bewusstsein dafür schaffen, dass menschengemachtes Tierleid durch den Ausstieg aus der Tierausbeutung in großen Teilen abgeschafft werden kann. Gleichzeitig kann sich die vegane Bewegung entschieden für die Entwicklung und Bereitstellung von Alternativen zum Konsum von Fleisch und Tierprodukten einsetzen. Denn je besser im Geschmack, weiter verfügbar und je preiswerter Alternativen sind, desto eher werden Menschen unter dem Eindruck ihres Wissens um das Tierleid bereit sein, auf den Konsum von Tierausbeutungsprodukten zu verzichten.

Die Bereitstellung veganer Alternativen ist wichtig, aber der weltweite Hang zum Tierfleisch ist stärker als viele denken. Die Bereitstellung von Kunstfleisch könnte hier die letztliche Wende bringen, um einen gesellschaftlichen Abschied von Nutztierhaltung und Tierausbeutung zu ermöglichen. Anstatt für am Ende die Aufrechterhaltung der Tierausbeutung ermöglichende Tierschutzmaßnahmen zu kämpfen, können und sollten Veganer alle verfügbaren Mittel und Möglichkeiten vereinen, um die Entwicklung von nicht mehr über die Tötung von Tieren gewonnenem Kunstfleisch mit aller Kraft voranzutreiben.

Je mehr Veganer es gibt, desto stärker wird sich das Bewusstsein über die Unerverantwortbarkeit der Nutztierhaltung ausbreiten, desto mehr wird das Unbehagen am Fleischkonsum zunehmen und desto größer werden die Bemühungen um die Entwicklung von Kunstfleisch sein. Je eher dies Fleisch weltweit verfügbar ist, desto schneller wird es uns gelingen, dem Elend in den Schlachthöfen endlich ein Ende zu bereiten.

Sicherlich mag der Gedanke an Kunstfleisch für Veganer, die sich pflanzlich ernähren, unangenehm, unästhetisch oder gar abstoßend sein. Über Geschmack lohnt sich aber nicht zu streiten. Der Fokus der veganen Bewegung sollte sich auf der Abschaffung unerträglichen Leidens und nicht auf die eigenen Geschmacksvorlieben richten.

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